Die Jazzgeschichte wurde zumeist von Bläsern geschrieben. Streichinstrumente spielten eine vergleichsweise marginale Rolle. Stilistische Öffnungen bieten Streichern aber neue Möglichkeiten im Grenzbreich des Jazz.

by Stefan Hentz – read article online

Was dem einen seine Trompete oder sein Saxofon, ist dem andern seine Violine, seine Bratsche, sein Cello. Wo in der klassischen Kunstmusik Europas der samtene Klang gestrichener Saiteninstrumente den Ton vorgibt, waren diese im Jazz lange die Ausnahme. Blasinstrumente herrschten vor, weil sie, historisch gesehen, praktischer waren. Mit ihrem nuancenreichen, feinen Ton fanden Streichinstrumente ihren idealen Ort in Konzerthallen, in denen das Publikum sich daran gewöhnte, ruhig zu sitzen und Musik als etwas wahrzunehmen, was man am besten aufmerksam zuhörend geniesst. Blasinstrumente dagegen passten dank ihrer kompakten und zugleich robusten Bauweise und ihrem akustischen Durchsetzungsvermögen bestens in die Marschkapelle.

Als nach Ende des amerikanischen Bürgerkriegs die konföderierten Armeebands demobilisiert wurden, überschwemmten ihre Instrumente den Markt – und wurden plötzlich erschwinglicher, auch für Afroamerikaner. So konnten einige Jahrzehnte später Streetbands in den lärmigen Strassen New Orleans eine wichtige Rolle als Geburtshelfer des Jazz übernehmen. Ein Ton war gesetzt, der – bei allen Veränderungen und stilistischen Revolutionen, von denen die junge Kunst des Jazz ganz besonders stark geprägt wurde – Tonfall und Timbre des Jazz für sehr lange definierte.

Sehnsuchtsobjekte

Streichinstrumente aber, ebenso wie die tadellosen Bedingungen, unter denen sie üblicherweise zum Einsatz kamen, mochten zwar Sehnsuchtsobjekte vieler Jazzmusiker sein. In der Mechanik ihrer Musik blieb zumeist indes wenig Raum für solistische Streicher. Einen Platz fanden sie hingegen im symphonischen Jazz, etwa in den Orchestern von Paul Whiteman oder John Jean Goldkette, in Europa geborene Musiker mit einer profunden klassischen Ausbildung. Und dann gab es den Geiger Joe Venuti, dessen Jazzimprovisationen im Zusammenspiel mit seinem Kindheitsfreund, dem Gitarristen Eddie Lang, die Violine bereits in den 1920er Jahren zu einem Jazzinstrument machten, ein gefragtes Würzmittel für sonst wenig ambitionierte Schallplattenproduktionen.

Ein Jahrzehnt später erspielte sich der französische Vorzeigevirtuose Stéphane Grappelli an der Seite von Django Reinhardt zwar seinen eigenen Platz in der Jazzgeschichte. Aber das änderte vorläufig wenig an der marginalen Rolle von Geigen und Celli. In den vierziger Jahren sorgte der Saxofonist Charlie Parker für die Bebop-Revolution. Obwohl er sich gerne von Streichern begleiten liess, förderte er ihre Emanzipation noch nicht. Als John McLaughlin zwei Dekaden später in seinem Mahavishnu Orchestra mit den Violinisten Jerry Goodman und Jean-Luc Ponty musizierte, war das immerhin eine Art Öffnung. McLaughlin kultivierte die spezielle Reibung zwischen dem Klang der Violine und dem heftig aufgerauten Zerrsound seiner E-Gitarre.

In den letzten Jahren, ein gutes Jahrhundert nach den ersten Schallplattenveröffentlichungen unter der Fahne des Jazz, hat sich die Lage der Streicher verändert. So waren am Eröffnungsabend des Jazzfest Berlin vor einigen Wochen dicht hintereinander und beispielhaft gleich zwei Grossformationen aus Chicago zu erleben, dem bewährten Entwicklungslabor der Jazzgeschichte, die die konventionelle Satzarithmetik des Bigband-Jazz ad acta legten, um Bläser und Streicher gleichberechtigt zu behandeln.

 

Wo im orchestralen Jazz traditionell die Wucht der Mehrfachbesetzung für eine unantastbare Klangmacht sorgte, werden in Nicole Mitchells Black Earth Ensemble sowie bei Rob Mazureks Exploding Star international die Sounds in ihrer Zerbrechlichkeit quasi blossgestellt. Die beiden Formationen, so könnte man meinen, gehen klangliche Risiken ein. Doch möglicherweise stehen sie für eine neue Selbstverständlichkeit im Umgang mit unterschiedlichem Klangmaterial.

Auch sonst nutzen heute – ganz unabhängig von stilistischen Orientierungen – immer mehr Jazzformationen den reichhaltigen Sound der Streichinstrumente als Kontrastmittel zu den Klängen traditioneller Jazzbands. Selbst der afroamerikanische Tenorsaxofonist Kamasi Washington, der eigentlich einen Trend in Richtung Soul und Hip-Hop gesetzt hat, lässt seinen robusten Ton gerne auf den Aufwinden grosser Streichersätze segeln. Der Pianist und Komponist Sebastian Sternal spiegelt in seiner Symphonic Society vier klassische Streicher an vier Jazzbläsern; ähnlich verfährt sein Kölner Kollege Heiner Schmitz im Ensemble Symprophonicum.

Unterdessen profilieren sich Streicher, vor allem Geiger, im Jazz-Kontext längst auch als virtuose Solisten – wie etwa der Pole Adam Baldych oder der Deutsche Gregor Huebner, der stilistisch sehr offenporig auf Materialsuche geht und gerade mit karibischen Rhythmen experimentiert. Auch reine Streicherensembles können sich im Jazz behaupten. Das gilt auch für ausgewachsene Streichquartette wie das Radio String Quartet Vienna oder das Kaleidoscope String Quartet aus der Schweiz, die sich in der Quadratur des Kreises verstehen und in ihren Kompositionen auch jazzmässig improvisieren.

Alles ist möglich

Jenseits des klassischen Stammgebiets scheinen Streicher besonders offen für stilistische Grenzgänge zu sein. Der Geiger Tobias Preisig etwa – gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts der erste, der in der Schweiz ein Jazzstudium antreten konnte – experimentiert nun mit elektronischen Erweiterungen seines Klangspektrums und kultiviert die Trancewirkung seiner expressiv extrem abgespeckten, minimalistischen Spielhaltung im Grenzbereich zur elektronischen Musik. Seine in Italien geborene und am Bodensee aufgewachsene Berliner Kollegin Fabiana Striffler hingegen nähert sich aus der Perspektive der Neuen Musik der Spannung zwischen komponierter und improvisierter Musik. Die Brücken zur freundlichen Romantik des vertrauten Streicherklangs ganz abgebrochen hat die aus Korea stammende New Yorker Cellistin Okkyung Lee, die das Spektrum ihrer Ausdrucksmittel dafür in die Zonen freier Improvisation erweitert.

 

Alles scheint unterdessen möglich, alles, was der musikalischen Wahrheitsfindung dient. Einmal mehr erweist sich Jazz nach dem Fall der inneren Mauern als der grosse Integrator, als der er entstanden ist. Am weitesten fortgeschritten auf diesem Weg sind möglicherweise zwei Brüder, die mit ihren vielfältigen Projekten in Frankreich zu den Musikern der Stunde zählen. Der Violinist Théo und der Cellist Valentin Ceccaldi. Sie stehen für eine radikal offene Klangsprache, die Elemente des aktuellen Jazz mit neuen, noch recht unerschlossenen musikalischen Kontinenten verbinden. Ob High oder Low, Klassik oder Punk, Intellekt oder Trance, Wut oder Zärtlichkeit – diese Diese Musik tönt über alle Grenzen und Gegensätze hinweg.