Das Progressive Chamber Music Festival in München und New York · Von Andreas Kolb

 

(nmz) – Kommt man als Europäer in die Vereinigten Staaten, dann erwartet einen kein Cultural Clash. Alles kommt einem irgendwie vertraut vor – nur wie um eine hundertstel Sekunde in einem Pa­ralleluniversum verschoben. In diesem Bruchteil einer Sekunde entsteht sozusagen Amerika – seine Architektur, sein Lifestyle, seine Mobilität, seine Ess- und Trinkkultur und seine Künste. Und natürlich Amerikas originäre Musik: der Jazz, das Musical, das Great American Songbook – oder auch die Progressive Chamber Music eines Sirius Streichquartetts.

Das Sirius Quartet ist in New York zuhause und spielt zurzeit in folgender Besetzung: Fung Chern Hwei und Gregor Hübner, Violine, Ron Lawrence, Viola, und Jeremy Harman, Cello. Ron Lawrence war bereits Gründungsmitglied des legendä­ren amerikanischen John Soldier Quartets, das von 1984 bis 2004 über 100 Uraufführungen bestritt. Als es sich auflöste, machte Lawrence weiter mit dem Sirius Quartet, das in wechselnden Besetzungen inzwischen selbst Musikgeschichte geschrieben hat.

Die vier aktuellen Mitglieder haben sich der Progressive Chamber Music verschrieben. „Fortschrittliche Kammermusik“ – die deutsche Übersetzung offenbart den spannungsgeladenen Gegensatz aus althergebrachter Gattung und einem musikalischen Fortschrittsgedanken und verweist damit auch auf die amerikanischen Wurzeln des Quartetts, das die Errungenschaften Darmstadts und Donau­eschingens kennt, aber einen eigenen postmodernen Weg einschlägt und sich – speziell in den USA – in einem anderen Marktumfeld behaupten muss. Das große N, das gewöhnlich für Neue Musik steht, steht bei Sirius eher für den Neuen, nicht arbeitsteiligen, Musikertypus. Man könnte auch sagen den „Complete Musician“. Der vollendete Musiker interpretiert nicht nur, sondern komponiert und improvisiert auf einem ähnlich hohen Level. So war es in früheren Jahrhunderten auch und Sirius greift diese Tradition auf – mit Musik von heute.

Das Repertoire des Quartetts speist sich aus unterschiedlichen Quellen. Zum einen sind es Uraufführungen, die in den Staaten weniger von Veranstaltern oder vom Rundfunk beauftragt und finanziert werden, sondern häufig direkt von den Komponisten  und deren Plattenlabels, die das Sirius Quartet dann für Aufnahmen dieser Werke engagieren.

Zum anderen bekommen die Quartettkomponisten von Sirius regelmäßig Aufträge von Privatpersonen oder nutzen etwa die Möglichkeit, für die hochbegabten Schüler der Lucy Moses Schule im Rahmen des Programms „Face the Music“ zu komponieren. Als Composer/Interpreter-Ensemble hat sich das Quartett in den vergangenen Jahren auf diese Weise ein umfangreiches Repertoire eigener und fremder Arbeiten geschaffen. Für Farbe im Programm sorgen die Handschriften der Ensemblemitglieder: Gregor Hübner, der auch eine Professur für Jazzkomposition an der Münchner Musikhochschule innehat, schreibt in einem avancierten Jazz-Idiom und kann zudem – als ehemaliger Stuttgarter – auf seine Kenntnisse aus Kompositionskursen bei Helmut Lachenmann zurückgreifen. Hwei bringt die Traditionen seines Heimatlandes Malaysia mit ein und Jeremy Harman lässt sich aus dem Sektor Rock und Heavy Metal inspirieren. So wie Schubert sich der alpinen Folklore seines Heimatlandes bediente, so bedienen sich die vier für ihre kunstvollen Arrangements aus dem Fundus des modernen Pop und der Classical Music von den Beatles über Billy Joel bis hin zu Henry Purcell.

Natürlich gehören ins Repertoire von Sirius auch Klassiker wie ein Ligeti-Streichquartett oder das Quartett „Black Angels“ von George Crumb. Kollektive Improvisationskunst ist ein weiteres Alleinstellungsmerkmal des Quartetts – und noch eine Besonderheit gibt es: Das Sirius Quartett kuratiert seit 2016 jährlich das Progressive Chamber Music Festival, das bisher in New Yorker Szene-Clubs veranstaltet wurde und dieses Jahr mit einem Ableger über den Atlantik nach Europa kam: in den Milla Club des Filmmusikkomponisten Gerd Baumann ins Münchner Glockenbachviertel. Die Idee, ein Festival zu machen, wo man sich und gleichgesinnte Freunde auf einer Bühne präsentieren kann, entstand während einer Asientournee des Quartetts vor einigen Jahren. Das Modell war John Zorns Club „The Stone“ in New York, wo Sirius oft aufgetreten war, und wo Zorn jeweils einen Kurator für eine Woche bestimmte.

Milla Club München

Bald war auch der Name gefunden: Progressive Chamber Music Festival und eingeladen werden sollte alles, was man nicht kategorisieren kann (und will). In New York fand das zweitägige Festival inzwischen zum dritten Male statt, dieses Jahr im Spectrum Club des Sponsors Glenn Cornett Mitte November in Brooklyn, die deutsche Premiere im Münchner Milla Club war bereits Mitte Oktober. Nach drei Jahren kann man heute sagen: Das Festival ist eine Plattform geworden für Kollegen im Feld zwischen Improvisation, Neuer Musik, klassischer Musik und Jazz. Was sich Hübner und das Sirius Quartet in Deutschland unter progressiver Kammermusik vorstellen, lässt sich gut an der Dramaturgie der beiden Münchner Abende Mitte Oktober festmachen. Das Duo Ruzicka/Turban bot eine Melange aus Geigenklang und elektronischer Musik. Die beiden jungen Musiker, die bereits für 13 Folgen „Tatort“ die Filmmusik geschrieben haben, führten vor, wie elektrische Kammermusik 2018 klingen kann. Stand bei Ruzicka/Turban der Keyboard-Sound im Vordergrund, so verließen sich Lovebrain and Diskotäschchen um den Posaunisten und Komponisten Matthias Götz ganz traditionell auf Geige, Bratsche, Tuba, Posaune, Sousaphon und die Perkussionskunst des quirligen Andy Haberl. Auch hier spielten Filmmusikthemen eine Rolle: im Zentrum das Stück über „M – eine Stadt sucht einen Mörder“ von Fritz Lang. Ark Noir ließ den Abend ausklingen – fünf junge Männer dröhnten ab: eine Symphonie aus Heavy Metal, Jazz und Elektro-Musik. Im Zentrum stand jedoch die Musik des Sirius Quartets, die für den Milla Club elektrisch verstärkt wurde, im Spectrum Club in Brooklyn dagegen, dank dessen guter Akustik, unverstärkt noch größere Wirkung entfaltete. Für den zweiten Münchner Abend hatte das Sirius Quartet im Milla Club ein Projekt mit der Opernsängerin Marlis Peterson aus der Taufe gehoben, das programmatisch in den nächsten Jahren weiterentwickelt werden soll. Weitere Künstler waren das um eine Generation jüngere Paranormal String Quartet sowie das Munich Composer Collective aus dem Umfeld der Musikhochschule.

Spectrum Club New York

Vier Wochen später der Sprung über den Atlantik zum dortigen Progressive Chamber Music Festival im Spectrum Club in Brooklyn: Weniger trendy als in München, eher im Stil eines Living Room Concerts gaben sich amerikanische Neue-Musik- und Jazz-Legenden die Klinke in die Hand. So präsentierte der ehemalige Blood, Sweat & Tears-Keyboarder, Pianist und Leiter der Kompositionsabteilung an der Manhattan School of Music, Richard Sussman, am Steinway Progressive Jazz in außergewöhnlicher Triobesetzung mit Ratzo Harris am sechssaitigen Kontrabass und Sara Caswell an der Geige – alle drei überzeugend beim Blattspiel und beim Improvisieren. Das extravagante Geigenduo String Noise mit Conrad Harris und Pauline Kim Harris machte seinem Namen alle Ehre und spielte auskomponierte Rock- und Punk-inspirierte virtuose Duo-Piecen verschiedener Komponisten, dem Anlass entsprechend auch eines von Sirius-Mitglied Gregor Hübner. Die Kammermusik von Rob Mosher’s Brooklynburg setzte dagegen nicht auf großen Effekt, sondern auf Witz, Zitat und tiefere Bedeutung. Ein wenig klang alles so, als wäre die Musik des österreichischen Enfant terrible Werner Pirchner um die besagte hundertstel Sekunde verschoben in den USA reinkarniert. Unaufwändig, nur mit seinem Cello in der Hand, betrat Erik Friedlander die Bühne im Spectrum. Mit Werken von Arthur Blythe, auskomponierten Bebop-Paraphrasen nach Oscar Pettiford und Stücken aus seinem Medien-Projekt „American Power“ mit dem Fotografen Mitch Epstein schuf der Cellist Augenblicke höchster Intensität.

Wie schon im Münchner Milla führte das Sirius Quartet Aktuelles  von Gregor Hübner auf: das fahle „Ground Zero“ etwa, oder „New World Nov. 2016“, eine Komposition im Rahmen des Wettbewerbs des New York Philharmonic zum 125. Jahrestag der Symphonie „Aus der neuen Welt“ von Antonín Dvorák, die am Tag nach der Wahl Donald Trumps entstand und von einem entsprechenden Furor getragen wird. Diesen Kompositionen sowie weiteren der Ensemblemitglieder Hwei und Harman ist eines gemeinsam: die virtuose Beherrschung des übergangslosen Übergangs auskomponierter und improvisierter Passagen.

Festivalhöhepunkt in Brooklyn: das Duo „Breath and Hammer“ des Klezmer-Klarinettisten David Krakauer und der südafrikanischen Pianistin Kathleen Tagg. Ob beim großen nigerianischen „Drum Circle“ von Tagg oder während Krakauers Interpretation von John Zorns „Angel of Omnipotence“ aus dem Book of Angels: Jeder Anschlag, jeder Klarinettenlauf war ein Ereignis und verwandelte die gemütliche Living-Room-Atmosphäre des Spectrum Clubs in eine magische Musikzeremonie.

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